Wirkleistung und Blindleistung

In diesem Unterkapitel versuche ich, Wirk- und Blindleistung anschaulich zu erklären. Dazu nutze ich als Analogie eine mechanische Bewegung. Das Ziel lautet: Eine Metallkugel der Masse m wird von Ort A nach Ort B bewegt. Dafür wird eine Geschwindigkeit v benötigt. Aus Geschwindigkeit und Masse können wir die Bewegungsenergie berechnen. Es gilt:

Die Kugel hängt leider an einem Faden. Wir können nur die obere Halterung des Fadens bewegen. Die Halterung sitzt auf einem Schlitten auf einer Schiene, auf der die Halterung in eine Richtung bewegt werden kann. Die Kugel folgt dann der Bewegung. Der Aufbau sieht folgendermaßen aus:

Weil die Kugel an einem Faden hängt, kann sie hin- und herschwingen wie eine Schaukel. Wir nehmen an, dass das Schwingen ideal und ohne Reibung abläuft. Es gibt zwei mögliche Bewegungen: Das ungewollte Schwingen der Kugel und die gewollte lineare Bewegung der Kugel entlang der Schiene. Beides sind Bewegungen, die aber unterschiedliche Wirkungen haben.

Blindleistung

Blindleistung bewegt Energie von einem Speicher in einen anderen Speicher. Es wird keine Energie nach außen abgegeben. Die Energie zirkuliert innerhalb des Systems. Die beiden Energieformen der Pendelschwingung sind „Bewegungsenergie“ und „potentielle Energie“. Wenn die Kugel am Wendepunkt der Bewegung ist, ist die potentielle Energie maximal hoch und die Bewegungsenergie 0. Am tiefsten Punkt ist die Bewegungsenergie maximal und die potentielle Energie minimal.

Während der Bewegung wird ständig Energie von einer in die andere Form umgewandelt. Jede Änderung der Energie benötigt Leistung. Diese Energieänderung benötigt nur Blindleistung. Es dringt keine Energie nach außen. Es wird nicht vom System nach außen irgendetwas bewirkt und es gibt keine Wirkung von außen ins System.

Blindleistung bewegt Energie zwischen zwei Speichern. Die Speicher des Pendels sind seine Höhe und seine Geschwindigkeit. Diese Speicher sind nicht einfach zu verstehen, auf die Erklärung verzichte ich hier.

Wirkleistung

Das Auslenken des Pendels aus der Ruhelage benötigt Energiezufuhr von außen. Um das Pendel zu starten wird also Wirkleistung benötigt. Die Energie innerhalb des Systems wird erhöht. Wenn das Pendel gebremst wird (z. B. durch Reibung), erwärmt es die Umgebung und seine Bewegung wird schwächer. Auch dies benötigt Wirkleistung, denn die Erwärmung ist eine Änderung, die vom System nach außen wirkt. Wirkleistung hat immer eine Richtung: In das System rein oder aus dem System raus.

Die lineare Bewegung entlang der Schiene benötigt Energie von außen. Das erkennen Sie daran, dass der Schlitten ohne Zufuhr äußerer Energie stillsteht. Das Pendel ändert seine Position durch Wirkleistung dauerhaft. Blindleistung bewirkt eine Bewegung, die nur temporär ist.

Ob eine Leistung Blindleistung oder Wirkleistung ist erkennen Sie u. A. daran, ob für eine Zustandsänderung Energie von außen zugeführt wird bzw. werden muss. Das Pendel schwingt weiter, ohne dass von außen Energie zugeführt werden muss. Das Pendeln benötigt also nur Blindleistung. Nur das Starten benötigt Wirkleistung, dafür muss von außen Energie zugeführt werden.

Blindleistung ist i. A. nicht problematisch, denn sie schadet oft nicht. Wenn das Schwingen des Pendels die Anwendung nicht stört, dann soll es halt schwingen. Dafür wird muss keine elektrische Energie eingesetzt werden. Viele Anwendungen erfordern, dass ein System nicht schwingt. Dann sollten Sie Blindleistung vermeiden.

Scheinleistung

Es kann sein, dass das Pendel schwingt und gleichzeitig linear bewegt wird. Dann benötigt es gleichzeitig Wirk- und Blindleistung. Systeme mit Speichern weisen i. A. eine Mischung aus Wirk- und Blindleistung auf. Beide Leistungen zusammen ergeben die Scheinleistung. Wirk- und Blindleistung werden als komplexe Zahlen addiert. Dazu später mehr.

In elektrischen Systemen sind bei reiner Blindleistung Spannung und Strom um ±90° oder ±π/2 zueinander verschoben.

Im Beispiel oben ist der Strom der Spannung um 90° voraus. Das ist immer an einem Kondensator der Fall. Die elektrische Leistung ist als Produkt aus u mal i definiert. Die Leistung schwingt – wie das Pendel – um 0 herum. Es ist reine Blindleistung, also wird sie hier als q(t) bezeichnet. Die Berechnung der Leistung im Zeitbereich zeigt, dass die Leistung mit doppelter Frequenz schwingt und dass ihr Verlauf sinusförmig ist.

Betrachten wir jetzt reine Wirkleistung. Spannung und Strom sind nicht zueinander verschoben, sie sind „in Phase“.

Die Leistung ist immer positiv. Das zeigt auch die Formel: Der Term 1 + cos(2ωt) hat einen Wertebereich von [0 … 2]. Dieser Wertebereich wird dann mit dem Vorfaktor multipliziert. Ein Sinus weist einen Wertebereich von [-1 … 1] auf.

Das Verhalten entspricht einem Pendel, das vom Schlitten immer in eine Richtung bewegt wird. Die Leistung schwingt zwischen 0 und dem positiven Spitzenwert. Das zu erklären sprengt die Analogie mit dem Pendel. Es genügt hier zu sehen, dass die Leistung nicht um 0 herum schwingt, sondern dass sie immer in eine Richtung weist. Dies ist zu 100% Wirkleistung.

Laden und Entladen von Speichern

Das Laden eines Speichers aus einer Quelle und das Entladen eines Speichers in einen Verbraucher benötigen Wirkleistung. Das ist wie das initiale Anschieben des Pendels aus der Ruhelage. Das Entladen in einen anderen Speicher bzw. und Laden aus einem anderen Speicher benötigt Blindleistung. Bei Wechselstromschaltungen mit Spulen und Kondensatoren im eingeschwungenen Zustand liegt immer Blindleistung vor. Wenn Sie eine solche Schaltung simulieren stellen Sie fest, dass Spannungen und Ströme am Anfang der Simulation etwas anders verlaufen als im eingeschwungenen Zustand. Das liegt daran, dass die Speicher zu Beginn (mit Wirkleistung) geladen werden. Das Pendel wird anfangs angestoßen. Danach erst schwingt das Pendel dauerhaft.

Die Lade- und Entladevorgänge von Speichern und Widerständen aus Kapitel Aufladen eines Speichers benötigen also Wirkleistung. Die Leistung als Produkt aus Spannung und Strom ist in der unteren Abbildung für einen Ladevorgang dargestellt:

Die Leistung ist immer positiv, sie weist in eine Richtung. Damit liegt Wirkleistung vor.

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